In Zeiten des nicht mehr zu leugnenden Klimawandels muss es zu einem grundsätzlich neuen Verhältnis von Individuen und Natur, von Siedlungen und Freiräumen sowie von Gesellschaft und Ressourcen kommen. Wie sieht vor diesem Hintergrund eine gute Landwirtschaft aus? Diese Frage ist heute aktueller denn je, denn Temperaturen steigen, Extremwetterereignisse nehmen zu, Niederschläge verlagern sich in die Winterzeit und die Vegetationsperiode verschiebt sich. Aber nicht nur der Klimawandel stellt die bisherige Praxis vor grundlegende Herausforderungen, sondern auch die gesellschaftlichen Veränderungen und die steigende Abhängigkeit von globalen Entwicklungen. Eine zukunftsfähige Landwirtschaft muss daher künftig mehrdimensional gedacht werden, um sich den Veränderungen anzupassen, um Klimaschäden zu minimieren und um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Konsequenz dieses mehrdimensionalen Transformationsprozesses ist die Neubewertung unserer Landwirtschaft, ihrer Funktion, Nutzung und Akteur:innen. Gefragt sind nicht nur die Landwirt:innen allein, sondern wir als Gesellschaft insgesamt.
Am Beispiel Kannawurf, einer Gemeinde im Thüringer Becken, wurde ein Konzept für die Zukunft der Landwirtschaft entworfen, das ökologische, ökonomische und soziokulturelle Strategien zusammen betrachtet. Entstanden ist ein Leitbild für eine klimagerechte Landwirtschaft des 21. Jahrhunderts, das mit neuen Landschaftstypen, einem betriebsübergreifenden Fruchtfolgenmanagement und künstlerischen Interventionen die Landschaft und Landwirtschaft anders in den Blick nimmt.
Im Nordosten Thüringens, im Landkreis Sömmerda, nahe dem Kyffhäuser und eingebettet zwischen dem bewaldeten Höhenzug Hainleite und dem Fluss Wipper, liegt Kannawurf. Die Gemeinde ist geprägt von großflächiger, intensiv bewirtschafteter Agrarlandschaft, dem kleinen Dorf Kannawurf mit rund 800 Einwohner:innen und einem teilweise erhaltenen Renaissanceschloss. Kannawurf ist damit eine typische Gemeinde im ländlichen Raum von Thüringen.
Das gesellschaftliche Leben in der Gemeinde prägen zu einem Großteil die Freiwillige Feuerwehr, ein agiler Karnevalsverein, der ortsansässige Landwirt, die Umweltgruppe – und die Neubesitzer:innen des Schlosses. Im Jahr 2007 erwarb der Künstlerhaus Thüringen e. V. unter dem Vorsitzenden Roland Lange das Schloss Kannawurf und engagiert sich seitdem für die schrittweise Sanierung des Schlosses, die Wiederbelebung des Renaissancegartens und für die kulturelle Aktivierung. Mehr noch: Der Verein inszeniert seit Jahren künstlerische Interventionen im Dorf und in der Landschaft für eine gelebte Teilhabe und für eine veränderte Land(wirt)schaftsgestaltung.
Ein Campus der Internationalen (IBA) Bauausstellung Thüringen im Sommer 2017 war der gemeinsame Auftakt von Künstlerhaus und IBA Thüringen für die Entwicklung neuer Landschaftsbeschreibungen. Die regionale Selbstversorgung, der Schutz von Flüssen, Wäldern und Wiesen und der Zugang der Menschen zur Landschaft spielten eine genauso große Rolle wie die finanzielle Unabhängigkeit der Region und ihr gemeinschaftliches Denken und Handeln. Mit diesem Ziel vor Augen gründeten die Partner:innen mit dem Landwirt vor Ort und weiteren Akteur:innen 2019 die Koop Kannawurf. Gemeinsam wollten sie konkret prüfen lassen, wie die konventionell bewirtschafteten Agrarflächen in Kannawurf ökologisch, ökonomisch und ästhetisch aufgewertet werden können. Immer stand dabei das Prinzip der Nachhaltigkeit und des sozialen Mehrwerts ohne wirtschaftliche Einbußen im Mittelpunkt.
Im Ergebnis entstand ein lokalklimatisches Leitbild für eine klimagerechte Kulturlandschaft des 21. Jahrhunderts. Dazu entwickelten die Landschaftsarchitekten Green4Cities aus Graz/Wien die Landschaftstypen Aue, Kuppe und Hang, die aufgrund ihrer unterschiedlichen klimatischen Effekte identifiziert wurden. Für sie sind jeweils verschiedene Fruchtfolgen zur Minimierung der Wind- und Wassererosion, von Hitzeinseln und Oberflächentemperaturen und spezielle Anpassungsstrategien an den Klimawandel entwickelt worden.
Ein zusammenhängendes Wegenetz als „Grünes Band“ mit neuen und wiederbelebten Verbindungen zwischen den Dörfern, die sich an den Bedürfnissen von Fußgänger:innen und Fahrradfahrer:innen orientieren, bietet eine erste Zugänglichkeit, denn: Nur wer die Landschaft kennt, kann ein kritisches Bewusstsein für ihre Nutzung und Bewirtschaftung entwickeln und sie (wieder) schätzen lernen. Dies kann über die bewusste Gestaltung von Land(wirt)schaft selbst wie auch über ihre Erlebbarkeit erfolgen. Der Verlauf des Bands ist so konzipiert, dass darin vor allem erosionsgefährdete und ökologisch wertvolle Flächen wie vernässte Bereiche gesichert sind und es so auch dem Boden- und Gewässerschutz dient.
Anhand eines überbetrieblichen Fruchtfolgenmanagements zeigt das Leitbild darüber hinaus, wie eine kooperative Agrarproduktion zwischen Landwirt:innen und Verarbeiter:innen aussehen könnte: Wenn der Wechsel der Getreide- und Gemüsekulturen im Beet nicht nur betriebsintern, sondern überbetrieblich und regional auf viele Landwirtschaftsunternehmen ausgerichtet wird, können trotz kleinerer Ackerflächen pro Kultur größere Abnahmemengen gewährleistet werden. Das reduziert für die Landwirt:innen das Investitionsrisiko, weil sie erst einmal mit kleinen Flächen anfangen können, und gibt den Abnehmer:innen mehr Sicherheit durch stabile Lieferungen. Aus der Summe der kleinen Teile wird ein großes, nachhaltiges Ganzes.
Seit 2022 wird eine erste Strategie des Leitbilds umgesetzt – und zwar eine entscheidende: Auf einer acht Hektar großen Versuchsfläche der Landwirtschaft Kannawurf Betriebsgesellschaft GmbH zog Philipp Gerhardt von der Deutschen Agroforst GmbH „Keylines-Strukturen“. Keylines oder auch Wasserretentionsstreifen sind fast hangparallele Erdrinnen, die das abfließende Regenwasser auffangen, gezielt weiterleiten und die Flächen so nachhaltig mit Wasser versorgen können. Pflanzen und Gehölze unterschiedlichster Art entlang der Rinnen sollen die Wirkung verstärken und den Boden stabilisieren. Eine Studie der Tractebel Hydroprojekt GmbH ergab eine Minderung der Bodenerosion um bis zu 60 Prozent. Bei einer Umsetzung im größeren Stil können sogar ganze Landschaften abgekühlt und damit die Regenwahrscheinlichkeit erhöht werden. Mit den Keylines wird so ein neues Landschaftsbild erzeugt, dass auch Lebensräume für bedrohte Arten bietet. Schon jetzt haben sich Rebhühner und Hasen in den Streifen angesiedelt.
Im Rahmen der IBA Thüringen werden die unterschiedliche Keylines bis Ende 2023 untersucht und ihre Wirkung beobachtet. Die Ergebnisse werden auf der Projektwebseite unter www.klimakulturlandschaft.de veröffentlicht.
(Erstveröffentlichung in: IBA Thüringen (Hg.): StadtLand Projekte. Für eine neue Raumpraxis, M Books, Weimar 2023, S. 69 ff.)
[Beitrag von Kerstin Faber, LG Mitteldeutschland]