Ist es Zufall, dass sich der Titel dieses Buches und der DASL Jahrestagung 2023 beinahe decken?
Aus dem Vorwort:
„WAS KÖNNTE UNS CHINA SAGEN?
Die Frage nach den Überlebensmöglichkeiten einer rasch wachsenden Weltbevölkerung mit steigenden Ansprüchen und einer ganz auf Wachstum und Gewinn eingestellten Wirtschaft in einem begrenzten Lebensraum;
die rasch fortschreitende Zerstörung der biologischen und ökologischen Lebensgrundlagen durch die wirtschaftliche und technische Entwicklung;
die sonntäglichen Massenfluchten aus den technisierten Städten dieses Wirtschaftssystems, die an Wochenenden und Ferien die Städter und mit ihnen die Welt, aus der sie flüchten, immer weiter hinaustragen, so dass das von bäuerlicher Bevölkerung mehr und mehr entleerte Land nur noch Randgebiet technisierter, großstädtischer Zentren wird.
Eine Welle von Nostalgie, die die große Anziehungskraft der vorindustriellen Welt zeigt;
die Entdeckungen der lebenswichtigen ökologischen, biologischen und psychologischen Zusammenhänge, die gleichzeitig mit den Resten der vorindustriellen Zeit immer schneller – und, wie es scheint – unaufhaltsam – zerstört werden.
Die Ausweglosigkeit der heutigen großstädtischen Situation im Konflikt zwischen „Technik und Wirtschaft“ einerseits, hygienischen, biologischen, ökologischen und psychologischen Notwendigkeiten andererseits.
Sollte das alles nicht Grund genug sein, Ausschau zu halten nach Beispielen für erprobte Lösungen solcher Fragen des Zusammenlebens sehr vieler Menschen auf engem Raum, auch wenn es sich um entfernte, bisher wenig beachtete Beispiele handeln sollte?
Muss in einem solchen Augenblick nicht eine Welt von Interesse für uns sein, die vielen hundert Millionen Menschen seit drei- bis viertausend Jahren auf verhältnismäßig kleinem Raum ein zutiefst kultiviertes Dasein ermöglicht hat – IN EINER NICHT ALS MECHANISMUS KONSTRUIERTEN, SONDERN ALS GARTEN GEWACHSENEN WELT? … “
Inhalt
Vorwort:
Was könnte uns China sagen?
Einleitung:
Mechanismen oder Gärten
I. Bauern- und Gartenland
II. Sparsamkeit und Schönheit
III. Kontinuität
IV. Ordnung
a) Hofhäuser
b) Tore, Torhüter und Geistermauern
V. Der Plan der Stadt als Bild der Welt
VI. Naturerlebnis
VII. Gärten
VIII. Alte Palastgärten
IX. Gärten in Sutchou und Shanghai
Anmerkungen und Bildnachweis
GEDANKENANSTOSS AUS DER FERNE
Vor 60 Jahren hat der Wiener Stadtbaumeister und Architekt Roland Rainer viele Gründe kritisch zu sein. Er ist besorgt über den Zustand und die Entwicklungsrichtung der modernen Welt. Er geht auf zwei große Reisen. In China findet er eine andere Hochkultur und entdeckt Alternativen für ein Zusammenleben vieler Menschen und Planet. Das in Folge erschienen Buch ist für uns heute ein wertvoller Anstoß zur Reflektion:
EIN SEIT ZWEI GENERATIONEN BEKANNTES PROBLEM
Rainers Buch und sein Notruf sind nur eine von vielen Stimmen, die Anfang der 1970er Jahre die Risiken des grenzenlosen Wachstums auf einem begrenzten Planeten deutlich anmahnten. Fakt ist, dass wir nicht genug oder nicht das Richtige getan haben, um die negativen Auswirkungen unserer menschlichen Existenz auf die Erde zu verändern. Wenn unser bisheriges Handeln, sicher in bestem Gewissen, nicht wirkungsvoll genug war, müssen wir nicht wesentlich deutlicher von den bestehenden Praktiken abkehren?
MUT ÜBER DIE EIGENEN GRENZEN HINAUSZUGEHEN
Müssen wir nicht, wie Roland Rainer, Altbekanntes hinter uns lassen, um endlich überlebenswichtige Veränderungen zu erreichen?
– DIE FERNE SUCHEN
Rainer erinnert uns, dass Europa nicht die einzige Zivilisation mit erprobten Lösungen ist. Vor 60 Jahren kann er in China noch eine Kultur finden, die nicht durch die westliche Moderne überformt ist. Er entdeckt andere Werte und Praktiken. Das Reisen und der Blick aus der Ferne helfen Ihm auch das Zuhause deutlicher zu sehen. Zwei Generationen später ist die Welt sicher globaler und gleichförmiger geworden. Noch immer scheint es jedoch wertvoll mit Mut in „die Ferne“ zu gehen und sich nicht auf die lokalen Denkweisen und Praktiken allein zu verlassen.
– DIE DISZIPLINEN ÜBERWINDEN
Rainer erinnert uns, dass in anderen Philosophien „Welt“ als „Einheit aller Geschöpfe“ verstanden wird. Im China der 1970er sieht er, dass aus diesem Denken heraus andere Praktiken des Zusammenlebens und der Planung bestehen. Der Umgang mit dem Wetter, dem Boden, den Früchten und den Tieren der Region stehen neben den Interessen der Menschen, weil das Leben nur „in Einheit“ möglich ist. Zwei Generationen später stellen wir genau dieselben Fragen. Anscheinend waren wir noch nicht mutig genug, um breitere Interessen und die Planungsdisziplinen, die sie vertreten, auf eine Art zu vereinen, die das Gedeihen der Welt als Einheit möglich machen.
– DIE ORDNUNG VERÄNDERN
Rainer erinnert uns, wie die technische Moderne dem Menschen zur dominierenden Vormacht verholfen hat. Das Konservieren von nicht-menschlicher Natur allein war nicht genug, um ein Zusammenleben zu sichern. In China entdeckt er in einer „als Garten gewachsenen Welt“ ein anderes erfolgsversprechendes Kräfteverhältnis zwischen Menschen und Natur. Wir sprechen auch heute wieder über eine „Neue Balance im Verhältnis von Mensch und Natur“. Aber haben wir unsere Praxis schon genug umgeordnet, dass wir den Egoismus und die technische Macht der Menschen wirklich auf positive Art überwinden können?
„Die Welt als Garten“ ist ein wichtiger Moment, um das Ruder der Stadt- und Landesplanung noch weiter und noch mutiger umzuschlagen. Roland Rainers Buch ist uns hierzu Inspiration und Ermahnung zugleich.
[Beitrag von Martin Probst
Associate Director MLA+ Rotterdam
Tutor Städtebau, Akademie für Baukunst Amsterdam]
Der Hinweis auf die frühe Verwendung der Garten-Metapher durch Roland Rainer im Zusammenhang mit (weitgehend vergangener) chinesischer Kultur ist spannend und formuliert ansatzweise ähnliche Gedanken wie Hubert Markl, damals Präsident der Max-Planck-Gesellschaft wenige Jahre später (siehe Text im DASL-Lesebuch „Stadt und Planung“ Hg. Becker/Jessen, Berlin 2021).
Die vorgestellten Botschaften Roland Rainers lesen sich heute als durchaus zeitgerechte Kommentare und Mahnungen. Ich denke aber, der Bezug auf die Person Roland Rainer bedarf auch der Erinnerung daran, dass Roland Rainer als Architekt und Städtebauer in seinen jüngeren Jahren Anhänger der NS- Ideen war, von der „Prägung von Landschaft und Bauen durch die Rasse“ überzeugt war und vor diesem Hintergrund z.B. für die „Weiterentwicklung ortsgebundener Bauweisen“ plädierte (vgl. die Ausführungen zu R.R. in „Ordnung und Gestalt“ von Düwel/Gutschow, Berlin 2019). Er steht beispielhaft für eine Generation von Planern, die sich in der Nazizeit bereitwillig in den Dienst der NS-Herrschaft gestellt haben. Nach dem Krieg haben sie bruchlos an diese Tätigkeiten angeknüpft und sind dennoch zu Amt und Würden in verantwortlichen Positionen gekommen. Von kritischer Reflexion ihrer Tätigkeit in der Nazi-Zeit oder gar Distanzierung und Schuldbekenntnissen war von diesem Personenkreis wenig zu hören. Freilich soll nicht bestritten werden, dass Roland Rainer im Zuge seines langen Lebens seine frühen Wertmaßstäbe und Auffassungen geändert haben kann.
Wenn es zuweilen gedankliche Nähen heutiger Überlegungen und konzeptioneller Ansätze zu solchen aus der NS-Zeit gibt, sind diese auch nicht per se kritikbedürftig oder abzulehnen. Historisch bewusste Menschen, Planende im Besonderen, sollten sich aber der unterschiedlichen Begründungszusammenhänge bewusst sein. Unverdächtige konzeptionelle Ansätze können in den Dienst totalitärer Ideologien genommen werden.