Der ländliche Raum gewinnt an Bedeutung: Im Jahr 2009 gaben noch 46% der europäischen Bevölkerung bei einer Eurobarometerumfrage an, dass der ländliche Raum und die Landwirtschaft „für unsere Zukunft sehr wichtig“ sind – im Jahr 2022 waren es bereits 60%.
Die Erwartungen an die Landwirtschaft haben sich dabei mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte verändert: Von der Landwirtschaft wird mittlerweile mehr erwartet, als „bloß“ Nahrungsmittel bereit zu stellen, vielmehr soll sie auch Klima- und Umweltschutz realisieren, den wirtschaftlichen Standort stärken oder auch das Leben auf dem Land allgemein fördern und verbessern. Wir reden heute also anders über Landwirtschaft als früher – und unsere gesellschaftliche Perspektive ist dabei nicht zuletzt eine ethische geworden: Welche Verantwortung haben wir bei unserem Tun nachfolgenden Generationen gegenüber (Stichwort Nachhaltigkeit)? Schulden wir auch der Umwelt selbst – dem Boden, den Ökosystemen, den Tieren – einen moralischen Umgang? In kurz: Welche Landwirtschaft können und wollen wir verantworten? Hierzu ein paar Thesen/Gedanken.
(1) Wo immer wir über Landwirtschaft und ländlichen Raum diskutieren, nachdenken und ja: auch streiten, geht es nicht nur um die Versorgung mit Nahrungsmitteln und bestimmte essentielle Wertevorstellungen wie Klima- und Umweltschutz, es geht auch um Bilderwelten und Narrationen. Um diesen Gedanken zu verdeutlichen, komme ich zurück zu den Erwartungen der Gesellschaft an die Landwirtschaft. Diese könnten in eine einfache Formel gebracht werden: Wenn Landwirtschaft die (Grund)Bedürfnisse erfüllt und die zentralen ethischen Wertvorstellungen einer Gesellschaft (wie beispielsweise Klima- und Tierschutz) berücksichtigt, dann erfüllt sie die gesellschaftlichen Erwartungen. Wie bei jeder einfachen Formel stellt sich jedoch die Frage: Stimmt sie denn auch? Zur Beantwortung soll auf ein Gedankenexperiment eingegangen werden: Stellen Sie sich einen hoch-technisierten Bauernhof vor. Die Fütterung der Tiere erfolgt computergesteuert. Die medizinische Überwachung geschieht durch zahlreiche Sensoren, die die relevanten Daten per App direkt aufs Smartphone schicken. Zur Kontrolle des Bestands fliegen Drohnen durch den Stall und über den Auslauf. Wichtig für das Beispiel ist: Dieser Hof erfüllt die zuvor genannten Erwartungen, sprich er produziert gesunde und unbedenkliche Produkte, er schafft und sichert Arbeitsplätze im ländlichen Raum (zumindest für die IT-Branche), er weist eine gute Klimabilanz und hohe tiergerechte Standards auf. Löst ein derartiger Hof, obwohl er alle genannten Erwartungen erfüllt, bei vielen Menschen nicht dennoch ein „Verlustgefühl“ aus, im Sinne von „da ist etwas verloren gegangen“ bzw. „da fehlt etwas“? Wenn ja: Wie ist das zu verstehen?
Eine Erklärung skizziert die gesellschaftliche Erwartungshaltung an Landwirtschaft anders als in der zuvor beschriebenen Formel, nämlich: Es geht nicht nur um Grundbedürfnisse und Wertorientierungen, darüber hinaus spielen auch Bilderwelten und Vorstellungen wie beispielsweise „Ursprünglichkeit“ eine entscheidende Rolle. Landwirtschaftliche Tätigkeit steht oftmals nach wie vor für das einfache, ursprüngliche und wahre Leben in und mit der Natur. Bauer zu sein bedeutet – gerade in Werbungen oder auch in urbanen Aussteigerträumen – ein Leben zu führen, wie es einst war und es eigentlich sein soll. Diese „Romantisierung“ des Bäuerlichen vollzieht sich dabei wesentlich im Urbanen und ist nicht zuletzt als eine Reaktion auf einen Zivilisationsüberdruss zu verstehen.
Diese Assoziation von Landwirtschaft und Ursprünglichkeit wird besonders in den gängigen Strategien des Agrarmarketings deutlich. Während zahllose nicht-landwirtschaftliche Produkte mit dem Hinweis auf Innovation, Technik und Fortschritt verkauft werden, scheinen Produkte aus der Landwirtschaft einer anderen Logik in der Wahrnehmung der Konsumenten zu unterliegen. Statt moderner Produktionsbedingungen scheint der Käufer hier eher technikferne Idylle zu wünschen. Oder gibt es Milch, die mit dem Slogan wirbt „Wir haben die modernste Melkanlage der Welt“?
Diese Bilderwelten sind nicht nur ideengeschichtlich spannend, sie beeinflussen auch die gesellschaftliche Beurteilung von Landwirtschaft. Zugespitzt: Ein großer, moderner, digitalisierter Betrieb mag hohes Potential für Umwelt- und Klimaschutz haben – aber er widerspricht der Sehnsucht nach dem Technikfernen, Ursprünglichen. Als Resultat werden kleine, „beschauliche“ Betriebe oft mehr wertgeschätzt als große, moderne.
(2) Konflikte im ländlichen Raum betreffen (auch) unterschiedliche Vorstellungen von Natur. Die Dynamik, dass wir in der Moderne Landschaft mehr und mehr ästhetisch wahrnehmen, wurde von Joachim Ritter eindrücklich beschrieben. Für den Menschen, der sich von der Natur noch geknechtet fühlt bzw. der sich primär im Modus der Arbeit an Natur wendet, ist die dringliche Perspektive jene der Ressource. Der Wald ist nicht Naherholungsraum, er ist Holz, das sich für die Wärmegewinnung im Winter verbrennen lässt; die Blumenwiese ist kein liebliches Sujet für Gemälde, auf ihr wachsen Gräser, die dem Vieh gut tun oder ihm schaden; der See wird nicht gesucht weil er einen schönen Anblick bietet, er ist Wasser- und Fischreservoir, etc. Das aber hat sich radikal gewandelt: Menschen wenden sich heute der Natur nicht mehr im Modus der Arbeit zu, sondern im Modus der Erholung und der ästhetischen Wertschätzung. Die „wilde Natur“ gilt dabei nun als schön. Beispielhaft: Wurden die Alpen früher als „hässliche Warzen auf dem Antlitz der Erde“ beschrieben, gelten sie nun als „Kathedralen der Natur“, als „erhaben und schön“. Man könnte sagen: Das, was Petrarca in seinen berühmten Tagebüchern beschreibt, nämlich das Aufeinandertreffen von Hirte (der in der Natur arbeitet) und Wanderer (der die Natur einfach nur genießen will) hat sich radikal umgekehrt: Bei Petrarca ist noch der Wanderer der „Freak“, derjenige, der den Anderen als verdächtig gilt. Heute? Muss der Landwirt damit rechnen, von einem Wanderer angesprochen zu werden, um sich zu rechtfertigen.
Und auch das Naturverständnis in landwirtschaftlicher Dimension ist ein anderes geworden: Die Tagung fand in der Lutherstadt statt. Noch Luther schreibt darüber, dass die Natur grausam und unbarmherzig und voller Disteln und Dornen ist. Der Landwirt muss dieser furchtbaren Natur also unter Schweiß die Ernte abringen. Fragen wir heute Menschen, was sie sich unter „Natur“ vorstellen, kommen Antworten wie „Natur ist gut“; „Natur ist fruchtbar wie sie ist.“ Auch diese Vorstellungen beeinflussen die Beurteilung von Landwirtschaft, denn: Wer die Natur als fruchtbar und gut ansieht, wird technische Interventionen anders/kritischer beurteilen als jemand, der in der Natur ein unwirtliches Gegenüber sieht. (Beispielhafte Debatte: Grüne Gentechnik). Dabei neigen wir als Gesellschaft eindeutig zu einem romantisierten Naturbild. Lakonisch notiert hierzu Radkau: „Daß die Natur von sich aus ein blühender Garten sei, ist eine typische Illusion derer, die nicht im Garten arbeiten“.
(3) Die Welt als Garten zu verstehen bedeutet: Natur als etwas zu verstehen, das auch maßgeblich vom Menschen gestaltet ist, denn in einem Garten ist „Natur-Kultur“ in einer Balance, wie sie der Mensch als adäquat und wünschenswert empfindet. Damit wird der Mensch zum Gärtner, er muss also aktiv sein. „Wir sind Gärtner der Welt.“ Diese Metapher durchzieht die Argumentation jüngerer ökologischer Debatten und wird spätestens seit der Veröffentlichung des Buches „Rambunctious Garden“ von Emma Marris (2011) erneut intensiv diskutiert. Marris argumentiert darin für eine Überwindung des „konservierenden“ Naturschutzes: Da der Mensch bereits alle Ecken und Enden der Erde durchwühlt und überformt habe, sei es an der Zeit, das Paradigma eines bloßen Bewahrens aufzugeben. Statt dem Leitbild einer unberührten Wildnis, die aus Sorge um ihren Verlust umzäunt wird, soll nun im Naturschutz das Naturbild des Gartens gelten, den der Mensch angelegt hat und für dessen Gedeihen er durch aktive Gestaltung verantwortlich ist. Ein derartiger Paradigmenwechsel, wie er von Marris gefordert wird, könnte zukünftig die Debatten über Landschaftsgestaltung, Umweltschutz oder auch Biotechnologie leiten; er versteht sich dabei nicht als radikale Ablösung des Konservierungsgedankens, sondern will diesen in einen größeren Zusammenhang integrieren. Der konservierende Naturschutz wird also nicht überflüssig, er verliert allerdings seine paradigmatische Stellung.
Sehen Sie hier die Folien zum einführenden Beitrag von Christian Dürnberger auf der DASL Jahrestagung 2023.
[Beitrag Christian Dürnberger, Messerli Forschungsinstitut, Veterinärmedizinische Universität Wien www.christianduernberger.at]